Mundgesundheit und Zahnheilkunde für besondere Bedürfnisse
KONTEXT
Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit (ICF) der WHO beschreibt Behinderung als einen Oberbegriff, der Beeinträchtigungen, die Begrenzung von Aktivitäten und die Einschränkung von Partizipation mit substanziellen negativen und langfristigen Auswirkungen auf die Fähigkeit einer Person, normalen alltäglichen Tätigkeiten nachzugehen, beinhaltet. Behinderung ist keine Krankheit, sondern beschreibt die menschliche Erfahrung der Funktionsfähigkeit innerhalb des eigenen persönlichen Kontextes und der eigenen Lebensumstände. Sie wird in hohen Maße durch das kulturelle und gesellschaftliche Umfeld beeinflusst, in dem die Person lebt. Behinderung zeigt sich in vielfältiger Weise und betrifft Menschen mit unterschiedlichen Handicaps und mit oder ohne einen zusätzlichen Betreuungsbedarf. Allerdings hat nicht jeder Mensch mit einer Behinderung komplexe Betreuungsbedürfnisse.
Über eine Milliarde Menschen weltweit sind in irgendeiner Form von einer Behinderung betroffen. Zwischen 110 und 190 Millionen Menschen haben funktionelle Einschränkungen. Weltweit nimmt die Behinderungsrate aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung von Kindern mit Behinderungen, der älter werdenden Bevölkerung, der verstärkten Wahrnehmung und besseren Diagnosen und der steigenden Prävalenz und Inzidenz von Langzeiterkrankungen zu.
Soziale Determinanten der Mundgesundheit führen zu signifikanten Ungleichheiten für Menschen mit Behinderungen. Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft oder Kultur Behinderungen und Menschen mit Behinderungen wahrnimmt, kann zusätzliche Auswirkungen in Form von Diskriminierung, ungerechter Zuteilung von Ressourcen, Ablehnung und Stigmatisierung haben und den Zugang dieser Menschen zu medizinischer Betreuung einschränken. Dies wird als struktureller Ableismus bezeichnet.
Eine schlechte Mundgesundheit hat signifikante Auswirkungen auf die Allgemeingesundheit und die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen. Bei oralen Erkrankungen und Dysfunktionen findet bei Menschen mit Behinderungen oftmals keine effiziente Prävention und Behandlung statt, und der unzulängliche physische Zugang zu zahnmedizinischer Versorgung für Menschen mit Behinderungen ist oftmals eine Barriere für eine optimale zahnmedizinische Behandlung. Es gibt oftmals keinen eindeutig definierten Übergang von der zahnmedizinischen Betreuung von Kindern zur Betreuung von Erwachsenen, so dass Menschen mit Behinderungen im Erwachsenenalter oft keine Follow-up-Angebote mehr erhalten.
Die zahnmedizinische Versorgung von Menschen mit Behinderungen ist oft nicht komplex und kann im Rahmen der Primärversorgung und in gemeindebasierten Einrichtungen durch zahnmedizinische Teams erfolgen, die über die entsprechenden Qualifikationen, Kompetenzen und interdisziplinären klinischen Netzwerke verfügen.
Auch wenn der Zugang zu einer zahnmedizinischen Versorgung vorhanden ist, kann dieser u. U. für Menschen mit Behinderungen eingeschränkt sein. Dies ist auf folgende Faktoren zurückzuführen:
- weltweit fehlende Ausbildung in zahnmedizinischer Versorgung von Menschen mit Behinderungen;
- zahnmedizinische Fakultäten verfügen weltweit nicht über zahnmedizinische Normen für die Behandlung von Menschen mit Behinderungen;
- geringer Stellenwert der Mundgesundheit in der nationalen Gesundheitspolitik, da es in den für die Gesundheitsversorgung zuständigen Planungsteams an Aufklärung und Wissen hinsichtlich der potenziellen Auswirkungen der Mundgesundheit auf die Allgemeingesundheit und das allgemeine Wohlbefinden fehlt;
- Probleme innerhalb von Gesundheitsorganisationen: fehlende Kompetenzen und fehlendes Vertrauen; für Menschen mit Behinderungen ungeeignete Einrichtungen und Ausstattungen; unzureichende Unterstützung von Seiten der Verwaltung und fehlendes Verständnis für die klinischen non-ionizing monochromatic Herausforderungen; fehlende Finanzierung essenzieller Anpassungsmaßnahmen und Hilfsmittel wie die bewusste Sedierung und die Allgemeinanästhesie;
- zugrundeliegende Sozial- und Verhaltensfaktoren zusätzlich zu anderen miteinander konkurrierenden Prioritäten;
- Menschen mit besonderen Bedürfnissen und ihre Betreuer sind sich der Bedeutung der Mundgesundheit nicht bewusst.
GELTUNGSBEREICH
Die vorliegende Stellungnahme hat einen weit gefassten Geltungsbereich und bezieht die zahnmedizinische Versorgung von Menschen mit physischen, sensorischen, intellektuellen, gesundheitlichen, emotionalen oder sozialen Beeinträchtigungen oder Behinderungen mit ein. In den meisten Fällen liegt eine Kombination dieser Faktoren vor. Diese Gruppen werden manchmal als „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“, Menschen mit „besonderen medizinischen Bedürfnissen“ oder als Menschen bezeichnet, die eine „Zahnheilkunde für besondere Bedürfnisse“ brauchen.
STELLUNGNAHME
Der FDI weist nachdrücklich auf die Bedeutung der Förderung der Mundgesundheit in der Bevölkerung und in Gruppen hin, die am stärksten durch Krankheiten belastet sind. Das ist besonders für Menschen mit Behinderungen wichtig, die typischerweise stärker von Oralerkrankungen betroffen sind und deren Leben damit im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung zusätzlich erschwert wird. Diese Gruppen sind oft unterversorgt und erleben, dass ihre erforderliche zahnmedizinische Behandlung nur in seltenen Fällen erfolgt. Die FDI fordert die strikte Umsetzung des Artikels 25 (Gesundheit) der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und anerkennt und unterstützt die folgenden Leitprinzipien und die damit einhergehenden Empfehlungen:
- Alle Menschen haben das gleiche Recht auf
- Gesundheit einschließlich Mundgesundheit;
- Würde und Selbstbestimmung und die Freiheit, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und ihre Identität zu wahren;
- gesundheitliche Aufklärung sowie präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene;
- den Zugang zu einer grundlegenden medizinische Versorgung in ihren Gemeinden.
- Präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen sollten gemeinsame Risikofaktoren berücksichtigen, jedoch auch einen individualisierten präventiven Ansatz ermöglichen;
- Menschen mit Behinderungen haben Anspruch darauf, dass sie im Hinblick auf ihre Mundgesundheit gleichberechtigt behandelt werden;
- Eine nationale Mundgesundheitspolitik sollte die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen berücksichtigen und dabei speziellen Wert auf die Beseitigung von Zugangsbarrieren legen;
- Eine ausreichende primäre und spezialisierte zahnmedizinische Versorgung ist unverzichtbar, um allen Menschen, die eine spezielle zahnmedizinische Versorgung benötigen, eine qualitativ hochwertige Behandlung zukommen zu lassen.
- Um eine qualitativ hochwertige zahnmedizinische Versorgung für Menschen mit Behinderungen sicherzustellen:
- müssen die erforderlichen Einrichtungen und Ausstattungen zur Verfügung gestellt werden, damit die Zahnärzte den individuellen Patienten entsprechend der besten klinischen Praxis behandeln können;
- ist eine intraprofessionelle Zusammenarbeit innerhalb der zahnmedizinischen Profession sowie eine interprofessionelle Zusammenarbeit mit andern Gesundheitsfachkräften von entscheidender Bedeutung;
- sind zweckmäßige Systeme zur Überweisung an andere zahnmedizinische oder medizinische Fachleute und zur Konsultation mit ihnen wichtig, um eine tadellose Versorgung zu gewährleisten;
- Betreuer und andere Angehörige von Gesundheitsberufen sollten an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen, die Kenntnisse und Fähigkeiten im Bereich der Mundgesundheit vermitteln, um ihre Fähigkeit zur Förderung der Mundgesundheit von Menschen mit Behinderungen zu verbessern;
- Es sollte eine enge Zusammenarbeit zwischen der Verwaltung des Gesundheitssystems und den Ärzten bestehen, um eine personalisierte Versorgung von Menschen mit Behinderungen einschließlich Menschen mit seltenen Erkrankungen zu ermöglichen;
- Eine kontinuierliche zahnmedizinische Fortbildung sollte für alle Ärzte zugänglich sein und gefördert werden, damit sie Menschen mit besonderen Bedürfnissen besser versorgen können;
- Der Lehrplan für das zahnmedizinische Grundstudium sollte eine Grundlage für Fähigkeiten, Verhaltensweisen und Einstellungen vermitteln, die Absolventen im Laufe ihrer beruflichen Laufbahn weiterentwickeln können, um allen Mitgliedern der Gesellschaft zu dienen;
- Menschen mit Behinderungen sollten als Partner bei der Gestaltung und Evaluierung von Gesundheitsdienstleistungen und Gesundheitsinformationen beteiligt werden und auf diese Weise sicherstellen, dass diese Leistungen ihren Anforderungen entsprechen und personenzentriert sind.
- Kinder mit besonderen Behandlungsbedürfnissen sollten im Alter von 12 Monaten ein bewährtes Dental Home haben.
SCHLÜSSELWÖRTER
Mundgesundheit, besondere Behandlungsanforderungen, Behinderung
DISCLAIMER
Die Informationen in dieser Stellungnahme basieren jeweils auf dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand. Sie können so ausgelegt werden, dass sie existierende kulturelle Sensibilitäten und sozio-ökonomische Zwänge widerspiegeln.
LITERATURHINWEISE
- International Association for Disability and Oral Health. iADH Global Goals Statement file:///Users/chchu/Downloads/iADH-global-goals%20(2).pdf Einsehbar unter: https://www.iadh.org/wp-content/uploads/2022/09/iADH-global-goals.pdf
- National Commission on Recognition of Dental Specialties and Certifying Boards. Specialty definitions: Pediatric dentistry. May, 2018. Available at: https://www.ada.org/en/ncrdscb/dental-specialties/specialty-definitions. Accessed September 23, 2021.
- American Academy of Pediatric Dentistry. Management of dental patients with special health care needs. The Reference Manual of Pediatric Dentistry. Chicago, Ill.: American Academy of Pediatric Dentistry; 2023:337-44.
- Oral Health Foundation. Dental care for people with special needs. https://www.dentalhealth.org/dental-care-for-people-with-special-needs
- Convention of the United Nations on the Rights of Persons with Disabilities (2017). Einsehbar unter: https://www.un.org/disabilities/documents/convention/convoptprot-e.pdf
- Structural ableism in public health and healthcare: a definition and conceptual framework, Lundberg, Dielle J. et al.The Lancet Regional Health - Americas, Volume 30, 100650